Sender Freies Berlin


Rückblick auf 13 Jahre experimentelles Hörspiel beim SFB für das Studienzentrum für Künstlerpublikationen Weserburg – Museum für moderne Kunst


Ortsbestimmung der Radiokunst


Neue Zeitschrift für Musik 04/2005


Radio als Kunstapparat


Beitrag zum Symposiumsband „Radio as Art“ für das Studienzentrum für Künstlerpublikationen Weserburg, Bremen 2015


Internationale Digitale Radiokunst“ beim Sender Freies Berlin
1993-2006

 


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ORIENTIERUNG

Obschon heute nicht mehr zwingend existenznotwendig, ist das Medium Radio der eigentliche Ort der elektroakustischen Kunst; daher Radiokunst. Immerhin bieten die internationalen Funkhäuser, als ursprüngliche Initiatoren dieser Kunstform, noch immer eine Bühne für ein immer neues und hoch variables Materialverständnis in der Komposition, dessen einziger gemeinsamer Nenner der gestaltende Umgang mit tönenden Phänomenen zu sein scheint. Radiokunst kann als Konsequenz aus je neu greifenden Prozessen gesellschaftlicher, technischer und künstlerischer Natur verstanden werden. Ihre Geschichte erstreckt sich über bald 90 Jahre und dennoch ist die Bestimmung des Begriffes der Radiokunst bis heute gelinde gesagt undeutlich. Was bspw. im Sender Freies Berlin (SFB) zwischen 1993 und 2006 als „internationale Radiokunst“ über den Äther ging, hieß andernorts Sound- oder Audio Art, Schallspiel und Neues Hörspiel, experimentelles Hörspiel, Ars Acustica und neuerdings gar Klangkunst.
Tatsächlich spielt die Radiokunst nach eigenen Gesetzen und behauptet sich als Hörkunst in einem Umfeld, das der Gewohnheit nach vom visuellen Erleben beherrscht wird. Dass das Akustische unleugbar ebenso da ist, wird vom alltäglichen Bewusstsein mehr oder minder vernachlässigt. In den Werken der Ars Acustica oder ganz allgemein experimentellen Radiostücken wird dieses Wahrnehmungsdefizit in gewisser Weise aufgehoben und sogleich umgelenkt, wird speziell das alltäglich als bloß begleitend und nebensächlich Hingenommene als ästhetischer Gegenstand in den Vordergrund geholt. Und es findet sich darin ein vielleicht ungewohnter aber konzentrierter und tief gehender „Blick“ auf eine Welt, die in ihrer einseitig visuell ausgerichteten Betrachtung ungenügend ist. Den Dingen auf den Grund zu gehen heißt im Sinne der akustischen Kunst, ihren Klängen und Strukturen nachzuspüren und sie aus dieser Begegnung heraus zu neuen Ordnungen und Umgebungen zu fügen, um sie im Idealfall auch anders oder neu zu erfahren.

Akustische Kunst und ihre Prägung im Rundfunk meint jedoch nicht die wie auch immer elektroakustische Reproduktion unserer tönenden Welt oder das Verfolgen einer akustisch ausgerichteten Ökologie .

 

Tönende Welt versus Ästhetisierung natürlicher Klangphänomene

Geräusche führen im Alltag ein praxisbezogenes Dasein und steuern unbewusst unser Verhalten. Das geschieht primär, weil das Geräusch die Sinne anspricht und unmittelbar benannt, d.h. einem konkreten Zusammenhang zugeordnet wird, um – das hat mit der evolutionär begründeten Existenz des Gehörs zu tun – mögliche Gefahren zu erkennen und die Orientierung im Raum zu sichern. Durch diesen also evolutionär bedingten Reflex des Gehörsinns und seine Kopplung an den Verstand ist eine absolute Wahrnehmung jeglicher Geräusche im Sinne ästhetischer Gebilde, wenn nicht verstellt so doch zumindest erschwert.

Erst der mediale Gebrauch akustischer Zeichen läutet einen Wandel ein, nicht zuletzt dadurch, dass die verwendeten Zeichen aus ihrer Ursprungsumgebung herausgelöst erklingen, von ihrer Quelle abgetrennt und derart ihres eigentlichen Sinns der Orientierung und Warnung enthoben werden.

Mit der technischen Entwicklung zu immer präziseren und störungsfreieren Aufnahmeverfahren konnten Ars Acustica und Radiokunst sich zudem von den konkreten Klangquellen und Anlässen und damit auch von einem an natürliche Phänomene gebundenen Assoziationsprozess beim Rezipienten entfernen. Setzt das literarisch begründete, so genannte epische Hörspiel noch genau an diesem Verweischarakter an, indem es Geräusche illustrativ dem sprachlich determinierten Handlungsverlauf unterlegt oder beigibt, so isolieren Ars Acustica, die elektroakustische Musik und Radiokunst die Einzelimpulse ganz bewusst von ihrer Herkunft und machen sie damit frei für eine rein klangliche, rhythmische oder abstrakte Rezeption. Durch Vergrößerung, technische Bearbeitungen wie filtern, Umkehrung, Alteration und Modulation sowie „unnatürliche“ Kombination werden Geräusche zu reinen Kompositionsmaterialien, die im Neuen Hörspiel der 70er Jahre als einer Form der Radiokunst und Vorläufer der Ars Acustica dramaturgische Funktionen übernehmen, d.h. sprachgleich „erzählen“ – dann halten sie eine Verbindung zu ihrer konkreten Herkunft und Bedeutung – oder von Herkunft und Bedeutung abstrahiert zu „reiner Musik“ werden.
Es zeigt sich, dass der Begriff der Radiokunst in diesem Gebrauch als Oberbegriff über den künstlerischen Gattungen des Rundfunks allgemein steht und unter sich z.B. den der Ars Acustica, als einer spezifischen Form der Hörkunst, subsumiert.

 

Radiokunst: Versuch einer Eingrenzung des Begriffes

Die Künste des 20. Jahrhunderts erleben durch neue Techniken und die Integration wesensfremder, alltäglicher Materialien eine Öffnung hin zu anderen Künsten . Alles scheint sich gegenseitig zu durchdringen, neue Kunstformen entstehen. Sound Art, die Audioart allgemein und Radiokunst, als Spezialfall der Medienkunst, gehören dazu.
Radiokunst entwickelte sich nach einem hoffnungsvollen und durchaus vielseitigen Start in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts als Sendespiel und Hörspiel, Hörbild oder –film oder wird begriffen als Radiopoesie und genuine Kunst des neuen Mediums. Im Frankreich der 40er Jahre wird Radiokunst zum Spezialfall der Musik aus ungewohnten Materialien, benannt als „musique concrète“ wird sie präsentiert als im Sinne der Musik organisierte Lautsprecherkunst. Radiokunst erscheint – im deutschsprachigen Raum – in den 60ern als Schallspiel , in den 80ern als Neues Hörspiel und Ars Acustica. Dann wird sie aber, etwa um die Jahrhundertwende, mit dem Begriff der „Klangkunst “ in Verbindung gebracht – zeitgleich mit einem symptomatischen Sendeplatzsterben .

 

Auslaufmodell Radiokunst?

Aus heutiger Sicht stellt sich die „Umbenennung“ der spezifischen Kunst des Radios wie eine Verdrängung des ursprünglichen Begriffes durch den der Klangkunst dar. Von Radiokunst zu reden erscheint als überholt und das, was vorher Klangkunst meinte, und eng an die akustische und architektonische Beschaffenheit von jeweiligen Klang- und Installationsräumen gebunden war – im Radio also allerhöchstens besprochen und dokumentiert werden konnte – ist nun als Radiogenre im Rundfunk auf jeglichen Raum frei anwendbar. Streng genommen umfasst „Klangkunst (2.0)“ heute den Produktions- und Radioraum ebenso wie den Vorstellungs- und Handlungsraum, nicht weniger als den Empfangsraum. Die Spezifika sowohl der Klangkunst (1.0 ) als auch der Radiokunst werden durch diese höchstwahrscheinlich allein dem Populismus gezollte Werbemaßnahme wenn nicht der Vergessenheit anheim gegeben so doch mindestens der Aufmerksamkeit eines in dieser Hinsicht ohnehin in die Beliebigkeit driftenden Kunstdiskurses entzogen.

Als Gattungsbezeichnung taugt der Begriff der Radiokunst heute also ebenso wenig wie der der Klangkunst. Beide Begriffe sind aber für Beschreibung von Inhalt und Idee des SFB-Sendplatzes „Internationale Digitale Radiokunst“ wesentlich.

Dennoch oder gerade deshalb eignet sich der Begriff der Radiokunst als Meta-Begriff, der alle weiteren temporären Erscheinungen in der Geschichte künstlerischen Ausdrucks durch das Radio unter sich vereint.

 


Obschon also Radiokunst hier als übergreifende künstlerische Form der ursprünglich dem Radio zuzuschreibenden akustischen Kunst gefasst wird, sei der Gebrauch des Terminus in einer weitaus spezifischeren Form durch das ORF-Kunstradio kurz erwähnt: Heidi Grundmann (Initiatorin des ORF-Kunstradios) grenzt ihn durch ihre Definition ganz bewusst von dem der Ars Acustica (als einer nicht zwingend an die Mittel des Sendemediums gebundene Form) ab. Radiokunst ist nach ihren Vorstellungen unmittelbar mit dem künstlerischen Akt im Sendevorgang verbunden, d.h. wesentlich eine live auf und vom Sender ausgeübte Kunst und unterscheidet sich darin von vorproduzierter Tonträgerkunst. In Verlegenheit kommt diese Definition bei genauerem Blick auf die Geschichte des Hörspiels, das wohl ohne das Radio nicht existierte und das nur in seinen Anfängen und mangels geeigneter Aufzeichnungsverfahren live auf den Sender ging. Das Hörspiel oder Sendespiel kann als eine der ersten Radiokunstanwendungen im Rundfunk bezeichnet werden, obwohl es seit geraumer Zeit als vorproduziertes, im Sendevorgang nicht mehr änderbares Stück über den Sender geht.

Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch das Studium der Karl-Scuka-Preisträger seit 1955 hinsichtlich ihrer redaktionellen Herkunft, die je nach Land stetig zwischen Musikredaktionen und denen des Hörspiels pendeln und Komponisten, Musiker, Autoren und bildende Künstler gleichermaßen unter dem Begriff der Radiokunst vereint. Bei den ausgezeichneten Werken handelt es sich tatsächlich um vorproduzierte Stücke, die in derselben Form jederzeit wieder gesendet werden könnten.

 

Entgrenzung des Hörspiels beim Sender Freies Berlin:

Internationale Digitale Radiokunst (IDR)


Vor dem Hintergrund zunehmend experimenteller und freier Hörspielproduktionen schafft Manfred Mixner beim „Sender Freies Berlin“ 1993 eine redaktionelle Nische für experimentelle Audiostücke innerhalb des traditionellen Hörspielbetriebes. Er beauftragt Sabine Breitsameter mit der Konzeption und redaktionellen Betreuung des Sendeplatzes, der in den Programmheften zunächst unter dem Namen „Studio Drei“ geführt wird. Von September 1993 bis Ende 1994 läuft das Programm monatlich auf SFB 3.

Nach der Erweiterung auf eine wöchentliche Ausstrahlung im Jahr 1995 läuft die Sendung für ein Jahr auf SFB 4 Multi Kulti , bevor sie 1996 wieder zurück ins dritte Programm, demjenigen für Kultur darf. Mit Blick auf die allmähliche Computerisierung der Produktion, bzw. die so genannte digitale Revolution wird der neue redaktionelle Beitrag aus dem Umfeld des Hörspiels „Internationale Digitale Radiokunst“ genannt. Er wird 13 Jahre lang zur Heimat für all jene nicht mehr allein traditionell begründeten Hörspiele oder Feature und Sprechstücke oder Klangexperimente, die einem umfassenden Klanggeschehen verpflichtet sind und musikalische Materialien, Sprache oder das gesprochene Wort sowie das Geräusch als gleich berechtigte Kompositionsmaterialien nutzen .

 


Eröffnet wird die neue Sendereihe im SFB mit einem Radioessay von Sabine Breitsameter.
Als Ankündigung auf den Start und zur Programmatik der neuen Sendereihe beschreibt Breitsameter 1993 im Programm-Magazin des SFB die Radiokunst mit den Worten: „Ihr Rohstoff ist alles, was sich über das Ohr mitteilt: Räume und Materialien, Personen, Situationen und Landschaften auf vielfältige Weise zum Klingen gebracht (….) Kunst fürs Ohr – Kunst fürs Radio – Radiokunst; (…)“. Dabei wird die besonders im deutschsprachigen Raum gezogene Grenze zwischen so genannter U- und E-Kultur, wie auch schon bei der temporären Reihe „Audio Art“ in den Jahren 1984 und 87, weitestgehend unbedeutend. Im Vordergrund steht wesentlich ein gleichberechtigter Umgang mit den Kompositionsmaterialien.

An jedem ersten Montag im Monat werden ab September 93 „die Hörer mit unterschiedlichsten Konzepten der Radiokunst bekannt gemacht und (…) ein ausgewähltes Stück“ vorgestellt. Darum geht es vor allem: die international hoch aktive Audio-Kunst-Szene, die in Nordamerika und Australien, in Wien, Stockholm und Paris und in Deutschland, bspw. mit dem „Studio Akustische Kunst“ beim WDR in Köln, längst Zentren der Hörkunst herausgebildet hatte, auch im Berliner Sender vorzustellen, gleichzeitig aber auch ein eigenes Profil zu erarbeiten und sich im weiteren Verlauf als Berliner Forum für internationale Radiokunst zu profilieren. Erfolgreich erschien dies, da die Stadt sich seit dem Mauerfall zum Magneten gerade für kreative Menschen entwickelt hatte und aufgrund der vielen Industrie- und Wohnbrachen beste Bedingungen für internationale Künstler aller Sparten und die unterschiedlichsten Experimente im Umfeld der Klangkunst bot. Ende der 90er Jahre galt Berlin international als Hochburg der Klangkunst.

Von Anfang an zählen zu den beauftragten Künstlern sowohl „klassische“ Komponisten als auch bildende Künstler. So wird die dritte Sendung auf dem neuen Sendeplatz von der in Berlin lebenden Komponistin Mayako Kubo und ihrer im elektronischen Studio der Musikakademie in Basel entstandenen Arbeit „Vater – Gesang einer verlorenen Figur“ bestritten. Im Monat zuvor hatte der SFB das von der DEGEM als Hörspiel geführte „Agon“ von Thomas Schulz gespielt. Schulz kommt aus der bildenden Kunst und wirkt als Klangkünstler mit Installationen u.a. auch in der später von Mixner eingerichteten SFB-Klanggalerie. Musiker, Architekten, Autoren, bildende Künstler und Klangökologen bedienen den Sendeplatz gleichermaßen mit ihren Arbeiten, woraus im Laufe der Jahre ein beachtliches, internationales Radiokunst-Netzwerk entsteht . Kontakt zu jungen Künstlern bekommt die Redaktion nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit mit dem elektronischen Studio der TU und dem Künstlerprogramm des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Berlin.

 

SFB-Klanggalerie

1996, im Jahr der großen Berliner Klangkunstausstellung sonambiente – festival für hören und sehen, erweitert Mixner sein Netz internationaler Soundartisten noch einmal beträchtlich. Er gründet die „SFB-Klanggalerie“ im Foyer des historischen „Haus des Rundfunks“ an der Masurenallee in Berlin-Charlottenburg. Der Zeitpunkt der Einführung ist aufgrund des Festivals im Rahmen des 300-jährigen Jubiläums der Akademie der Künste Berlins gut gewählt und allein im ersten Jahr der Klanggalerie können acht internationale Künstler den Lichthof des Haus des Rundfunks bespielen . Mit dieser im Eingangsbereich des Radio-Hauptgebäudes initiierten Galerie stellt Manfred Mixner gleichzeitig der radiophonen Kunst eine neuartige Aufgabe. Denn installative Klangkunst lässt sich aus vielfältigen Gründen nicht unverändert ausstrahlen, sondern muss dezidiert als Raumklangkomposition oder Feature über die Installation für den linearen Sendevorgang aufbereitet werden – oder von vorne herein auch für eine Ausstrahlung im Rundfunk konzipiert sein. So hängt bspw. die Dramaturgie einer Klanginstallation wesentlich von subjektiven Entscheidungen des jeweiligen Rezipienten ab und ist damit variabel, wohingegen die des Radiostückes einzig vom Dramaturgen, Komponisten oder Autoren für den Hörer unveränderlich vorgegeben wird.
In einem hausinternen Informationspapier stellt Mixner das Konzept der Klanggalerie vor. Darin heißt es:
„Das ›Programm‹ dieser Klanggalerie im Sender Freies Berlin soll gekoppelt bleiben an das Kulturprogramm des Senders (SFB 3). Am Tag einer jeden Klangkunst-Vernissage soll der jeweilige Künstler in der Sendereihe ›internationale digitale Radiokunst‹ mit mindestens einer seiner Radiokunst-Produktionen vorgestellt werden, und seine ›Klanginstallation‹, das Klangkunstwerk, das mindestens zwei Wochen lang immer wochentags von 11 bis 17 Uhr in der Klanggalerie präsentiert werden soll, wird im größeren zeitlichen Abstand auch wieder im Radioprogramm zu hören sein. Das Veranstaltungsprogramm der Klanggalerie ist insofern als eine Art Programmerweiterung und als erweiterte Dienstleistung gegenüber dem kulturinteressierten Hörer in der Metropole konzipiert: Die Radiokunst bekommt einen eigenen öffentlichen Repräsentationsraum, und sie erhält jene Permanenz, nach der sie als akustisches Raumspiel drängt.“

Damit folgt der Hörspielchef einer allgemeinen Tendenz innerhalb der ARD-Hörfunkprogramme und Wellenpolitik: Hörreihen von SFB und Deutschlandradio-Kultur wie „Hörspiel unter dem Sternenzelt“ in Planetarien oder solche in Kinosälen, öffentliche Diskurse wie „Ganz Ohr – Symposium über das Zuhören“ das der Hessische Rundfunk 1997 in Kassel veranstaltete, öffentliche Performances des „WDR-Studio Akustische Kunst“ im Kölner Stadtgarten oder die Woche des Hörspiels, ursprünglich veranstaltet mit und in der Berliner Akademie der Künste – um nur einige zu nennen – erfreuen sich einer regen Publikumsnachfrage und stellen in dieser Zeit den verloren geglaubten Kontakt zwischen Hörern und Machern wieder her. Gerade die Live-Präsenz vor Ort mit dem Effekt des Radios zum Anfassen oder –schauen macht für den Bereich experimenteller Hörformen des Rundfunks auch Sinn, denn sie holt den Rezipienten durch die Vermittlung auf mehreren Sinnesebenen eher ab als die rein auditive Präsentation und stellt im Idealfall durch den Erfahrungswert eine bleibende Verbindung zur Audiokunst in Reinform her, weckt das Interesse für eine bis dahin unverstandene Kunstform.

Genau diese neue Qualität der Vermittlung und Öffentlichkeitsarbeit beschreibt Mixner als Aufgabenstellung für die Klanggalerie: „Für die SFB-Klanggalerie gibt es keine konkrete Programmatik, eher eine verschwommene Wunschvorstellung: Es sollen originelle und phantasievolle, bekannte wie unbekannte, populäre wie unpopuläre, naive wie schwierige Radiokünstler wieder einen konkreten Ort im Medium finden, einen Raum der Präsentation ihrer Arbeit, einen Umschlagplatz für ihre Ideen und für ihre Phantasie, einen Begegnungsraum, eine direkte und effektive Kommunikationsplattform. Denn auch das ist ein Teil des Kulturauftrags des ›Mediums‹ Hörfunk: die konkrete Vermittlung von aktueller Kunst.“

Auch auf die Problematik der verschiedenen Rezeptionsweisen zwischen der installativen, d.h. nicht unbedingt linear angelegten Raumklang-Kunst und der linearen Radiokunst geht er ein, bevor er abschließend beinahe appellativ die Chancen der neuen Einrichtung für alle Beteiligten, also Hörer wie Künstler und Redakteure, ja sogar den Radioapparat selbst skizziert: „Mit dieser Öffnung des Lichthofs im Haus des Rundfunks für die Künstler soll auch der Spielraum der Künstler im Kulturprogramm des SFB eine Öffnung erfahren. Nur an Performances interessierte Klangkünstler können sich über die ›Ausstellung‹ ihrer Arbeiten einen spezifischen Zugang zu Formen der ›Ausstrahlung‹ im Programm als Medium für ihre Ideen erschließen, und umgekehrt, können sich Redakteure, die sich an einen strengen normativen Kriterienkatalog gebunden glauben, in der Zusammenarbeit mit eigenwilligen Künstlern neue Formen und Inhalte der künstlerischen Programmgestaltung erarbeiten.“

 


Neun Jahre lang, von 1996 bis 2005 gehört die SFB-Klanggalerie neben der „Singuhr – Hörgalerie in Parochial“, der temporären Klanggalerie „Klangkunstforum Parkkolonnaden“ auf der Baustelle des Potsdamer Platzes und einigen anderen Plattformen, Hör-Lounges und Galerien für installative Raum-Klang-Skulpturen zu den Institutionen der Stadt, die der in der Berlin sehr präsenten, internationalen Szene ein Forum bieten, den Diskurs fördern und Berlins Ruf als „Hauptstadt der Klangkunst“ nähren.

 

Sound Rules – Aktuelles aus der Welt der Klangkunst

1999 beauftragt Mixner den Autoren dieser Zeilen mit einer Analyse von Präsentationsform und Inhalt der Radiokunst im SFB. In einer kritischen Vorüberlegung heißt es in der Analyse zum IDR-Sendeplatz:
„Eine Rundfunkstrecke, die sich thematisch der Radiokunst verschreibt, sollte auch formal in der Lage sein, Spielarten der Radiokunst an-sich vorzuführen, ohne sie extra thematisieren zu müssen. Das bedeutet für die formale Anlage der Sendung eine flexible Gestalt und die Vermeidung starrer Sendeabläufe oder fester Schemata.“
Und weiter unten: „(…) der lebendige, variationsreiche Umgang mit Information und Präsentation – und das mit Ansage – soll im Hörer das Interesse für die Sendung und den Wunsch regelmäßig einzuschalten erwecken.
Das Selbstverständnis und damit auch die Richtung der Öffentlichkeitsarbeit neben dem eigentlichen Sendebetrieb zielt also vor allem auf einen ständig sich fortentwickelnden und erneuernden Umgang mit dem Begriff der Radiokunst (…)“.

Zur Zielsetzung der IDR wird festgehalten, dass die Sendung „grundsätzlich (…) diese Werke und den Künstler vorstellen, Auskunft über den Entstehungsprozeß geben, Einblicke in das Umfeld des Werkes und des Künstlers gewähren und Künstler nebst Werk formal oder historisch einordne[n]. Mittelfristig arbeitet die Sendung an einer gattungsgeschichtlichen Bestandsaufnahme radiokünstlerischer Äußerungen und verfolgt als Ziel, eine Art offenes Nachschlagewerk für die Gattung der Radiokunst hervorzubringen. (…)“. Mit anderen Worten soll der regelmäßige Hörer/die Hörerin der IDR auf SFB 3 sowohl mit dem medien-historischen Werdegang der Radiokunst als auch mit der aktuellen, internationalen Szene vertraut gemacht werden. „Der Sendebetrieb dient diesem Ziel als Exkursionsplattform, in der in aller Ausführlichkeit auf einzelne Werke oder Künstler eingegangen werden kann und um sie herum experimentiert werden darf.“
Den meist unkonventionellen Soundarbeiten, die häufig krachig, lärmend, schnell und für den seriösen Kulturfunk unmöglich erschienen, setzte Mixner mit seiner sonoren und ruhigen Art des Redens einen sehr starken, fast muffig, auf jeden Fall aber konservativ anmutenden Moderationsstil entgegen und begründete das mit der Notwendigkeit des Kontrapunktes zu den häufig „schreienden“ Produktionen der Gegenwart. Genau diese immer gleich klingende Moderation sollte – so die Anregung im Exposee – nun durch die Hinzunahme eines neuen Formates durchbrochen werden. Die wesentliche Neuerung steckt in der Haltung der Redaktion zum vorgestellten Künstler und seinem Werk. Dazu heißt es im Analysepapier unter „III Strukturierungsvorschläge“: Allgemein arbeiten die Sendungen mit den Künstlern und nicht alleine über sie. Das bedeutet konkret, daß der Künstler sich selbst zu seinem Werk äußert. Das kann über ein im Vorfeld der Sendung aufgezeichnetes Interview erfolgen, das dann für die Sendung aufbereitet wird. (…)

Das waren dann aber auch Spontaneinlagen in Interviewsituationen mit Schauspielern, Performern oder Lautpoeten wie z.B. Valeri Scherstjanoi und Michael Lentz . Die Moderation beschränkt sich [dann] auf kritische Anmerkungen und Anfragen und fungiert in der Sendung als Gesprächsführung. (…)“.

Es entsteht das Konzept für ein Klangkunstmagazin mit den Mitteln der Radiokunst, d.h. Musik, Sprache und Geräusch sollen gleichberechtigt für Einzelbeiträge und die Großform des Magazins heran gezogen werden. Monatlich ausgestrahlt nimmt es den Platz eines „Gegenformates“ innerhalb des regulären Sendeplatzes der IDR ein, wodurch der Sendeplatz auch formal – also hinsichtlich seiner verschiedenen Präsentationsformen – die Flexibilität der Radiokunst insgesamt widerspiegelt: mit neuen Formen der radiokünstlerischen Arbeit und stilistisch freien Kurzreportagen , sowie ausgewählten Besprechungen von Audio-Aktivitäten im Internet als einer neu entstandenen „Aufführungspraxis“. Darüber hinaus sollte das Internet auch für die erweiterte IDR-Programminformation genutzt werden .

Weitestgehend alle Bereiche der Auseinandersetzung mit der Radio- und Klangkunst galt es abzudecken, sodass das Magazin – neben den ausgestrahlten Anthologien und den Sendungen ganzer Werke – inhaltlich wie formal eine Erweiterung der IDR darstellte: an drei Terminen im Monat wurde die Radiokunst in althergebrachter Weise präsentiert. Einmal im Monat „platzte“ dann ein Magazinformat in diese tendenziell distanzierte Präsentationsform herein, das auch formal über aktuelle Aktionen und Performances und mit Berichten von Ausstellungen in Berlin oder von großen Klangkunstfestivals im Ausland sowie Besprechungen wissenschaftlicher Publikationen oder „klingender websites“ und einem Trashfenster operierte. Zwischen den Beiträgen erklangen neu erschienene Radiokunst-CDs .

Die vorgestellten Künstler waren im Idealfall nicht mehr „Gegenstand“ sondern „Mittäter“.
Das neue Magazin, das ab Januar 2000 immer zum Monatsende im Anschluss an das Hörspiel ausgestrahlt wird , heißt „Sound Rules – aktuelles aus der Welt der Klangkunst“ und schließt mit der 25. Ausgabe im Sommer 2002. (s.u.: Abwicklung)

 

hoerspielbox.de

Im gleichen Jahr des Starts von „Sound Rules“ geht als Sommeraktion der Akademie der Künste zu Berlin das Soundarchiv „hoerspielbox.de“ ans Netz . Idee dieses Soundforums mit Texten zur Geschichte des Hörspiels und Experimentes im Radio, mit technischen Hilfestellungen zu Tonaufzeichnung und Soundbearbeitung am PC, mit (damals) einer Chatbox zum Austausch untereinander, mit einem Archiv aktueller Kurzproduktionen (bis ca. 5 Minuten), einem Wettbewerb und der Einladung an alle, über die hoerspielbox Wettbewerbe zu gestalten sowie einem freien Soundarchiv, war eine für jeden zugängliche Plattform bereit zu stellen, über die das Hörspiel und seine vielfältigen Gestalten diskutiert, eigene (rechtefreie) Stücke präsentiert und fremde Arbeiten angehört werden konnten. Herzstück der hoerspielbox war und ist ein frei zugängliches mp3-Archiv aus Geräuschen, Atmosphären, Instrumentalklängen und stimmlichen Lauten von Mensch und Tier. Dieses Archiv, das nach innen hin wie die professionellen Sounddatenbanken mit Suchfunktion in den Rundfunkhäusern organisiert ist, speiste sich aus dem Bestand des „Altgeräuschearchivs“ des SFB. In diesem, ausschließlich auf so genanntem Schnürsenkel gespeicherten, analogen Archiv, sind Sounds versammelt, die für Features und Hörspiele im SFB der 50er bis 70er Jahre produziert worden waren. Das heißt, sie sind großteils mit einer exzellenten Technik und dem Knowhow von Toningenieuren aufgezeichnet worden – allerdings (je nach Alter) manchmal auch noch in Mono.
Über Wettbewerbe wie „Die 5 besten Minuten der Menschheit“ kamen Kurzhörspiele direkt ins Programm der „internationalen digitalen Radiokunst“. Die hoerspielbox diente der Redaktion wie jungen Soundtüftlern gleichermaßen als Werkstatt und Experimentierfeld und war nicht zuletzt auch als Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der Redaktion gedacht. Aus der Perspektive der wöchentlichen Sendung internationaler Radiokunst im SFB war sie Erweiterung des Wirkungsfeldes und Werkzeug zugleich.

Mit dem Magazin Sound Rules und der Installation der hoerspielbox im Netz war die Redaktion der „internationalen digitalen Radiokunst“ nun auch im SFB auf der Höhe der Zeit angekommen und beschloss fortan auf den Zusatz „digitale“ im Titel des Programmplatzes verzichten zu können.

 


2001 fasst Manfred Mixner das Interessenfeld des Sendeplatzes im Theorieteil der hoerspielbox wie folgt zusammen:
„Unser Begriff von RADIOKUNST ist ein ganz pragmatischer: was immer sich als akustische Zeitkunst oder Raumkunst, als Klangkunst oder telematische Kunst im Radio vermitteln läßt, das ist Gegenstand unserer Sendereihe INTERNATIONALE RADIOKUNST. Wir verstehen uns nicht als hehren Musentempel für die hohe Kunst, wir wollen schlicht informieren: die akustische Kunst, die in dieser Zeit in den verschiedenen Regionen dieser Welt entsteht, wollen wir in Beispielen unseren Hörern vorstellen, in Anthologie-Sendungen oder als Einzelwerke.
Wir sind nicht Kunstrichter, sondern berichten über die aktuellen Klangkunstereignisse und Tendenzen, wobei naturgemäß für uns Berlin der Nabel der Welt ist, nicht nur weil wir die Landesrundfunkanstalt sind, sondern vor allem weil Berlin ein international viel beachtetes und attraktives Zentrum für Klangkunst geworden ist – dank der Aktivitäten der Akademie der Künste, des Künstlerprogramms des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, des elektronischen Studios an der TU, der Hochschule der Künste, der Berliner Gesellschaft für Neue Musik und vieler Einzelinitiativen von Galerien, Vereinen und Institutionen.“

 

Abwicklung – Kulturradio im Busfahrplan oder: hier spielt die (klassische) Musik

Der Rest ist schnell erzählt. 2002, nach dem krankheitsbedingten Ausscheiden Manfred Mixners und ein Jahr vor der geplanten Senderfusion , verlegte die Wellenleitung die Radiokunst gegen den Widerspruch der betroffenen Redakteure und unter der Vorgabe, sie vor der anstehenden Fusion und Programmreform in das sicherere Umfeld der Musik einzubetten, vom Hörspiel weg in die Zuständigkeit der Redaktion „Musik der Gegenwart“. Es wurde jedoch keine neue Stelle eingerichtet und kein Arbeitsraum in der neuen Umgebung für die redaktionelle Arbeit zur Verfügung gestellt. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Radiokunst noch 40 Stunden Sendezeit pro Jahr und beanspruchte immerhin eine halbe Stelle für einen freien Mitarbeiter. Diese Arbeit musste also aus dem Produktionsetat honoriert werden, was etwa ein viertel des Gesamtetats ausmachte und zur Reduktion bei der Vergabe neuer Aufträge nötigte.
2003 wurde die Präsenz im Kulturradio des RBB dann auf 20 Sendungen halbiert. Die „Internationale Radiokunst“ erschien nun mehr vierzehntägig im Kulturprogramm, sodass das Klangkunstmagazin „Sound Rules“ eingestellt werden musste, um noch repräsentativ aktuelle Radiokunstproduktionen im Ganzen oder im Rahmen von Anthologien präsentieren zu können. Ab und an konnten als „Sound Rules – spezial“ kurze Reportagen und Besprechungen aktueller Ereignisse ins Programm integriert werden.

Ab 2004 durften dann nur noch vier Sendungen im Jahr ausgestrahlt werden, was faktisch bereits das Ende kontinuierlicher Radiokunst im RBB bedeutete. Die vier Jahresendungen wurden vom programmgestaltenden Mitarbeiter (der der Autor dieses Artikels ist) als „Festival der Internationalen Radiokunst im Kulturradio des RBB“ an vier aufeinander folgenden Terminen der „Musik der Gegenwart“ immer kurz vor der Sommerpause eingesetzt. Jedes Festival stellte Ursendungen der im Vorjahr produzierten Klanggalerie-Performances und Installationen und Wiederholungen aus dem Archiv der SFB-Radiokunst vor. Dabei näherten sich die einzelnen Sendungen, die immer auch thematisch miteinander verflochten waren, stilistisch der Machart von Sound Rules an: es gab eigene Festival-Trailer , zwischen den vorgestellten Kompositionen waren Interviews, Auszüge und Kurzportraits und alles wurde durch Zwischensounds oder Musiken miteinander verbunden.

 


Ende 2005 wurde der Etat der RBB-Klanggalerie gestrichen. Eigentlich sollten Galerie und Sendeplatz im gleichen Jahr eingestellt werden. Da die Klanggalerie (als zuletzt einziger Auftraggeber für Neuproduktionen) 2005 aber noch drei Arbeiten produziert hatte, durfte das Festival 2006 noch einmal auf den Sender.

 


Gibt man heute in eine Internet-Suchmaschine den Begriff „Internationale Radiokunst“ ein, so erhält man 56 Einträge , wovon etwa die Hälfte auf den ehemaligen SFB/RBB-Sendeplatz verweisen. Keiner der Einträge stammt jedoch vom RBB selbst, obwohl zu Zeiten der Ausstrahlung dieses Sendeplatzes beim SFB und später dann auch beim RBB umfangreiche Programminformationen sowohl zu den Sendungen als auch zum Programm der SFB/RBB-Klanggalerie im Netz standen. Die Einträge, die sich noch finden, stehen zumeist auf Künstlerseiten und im Textteil der „hoerspielbox“. Dass der RBB keinen einzigen Hinweis auf die immerhin über 13 Jahre kontinuierlich in seinem Programm präsentierte Radiokunst mehr hat, widerspiegelt seine offizielle Argumentation gegenüber der internationalen Kritik bei Abwicklung des Sendeplatzes.

Demnach hat die Radiokunst keine Tradition im SFB…

(© Andreas Hagelüken2008/IDR beim SFB)

 


Hörgeräuschmusiksprachspiel – eine historische Ortsbestimmung der Radiokunst

 


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Eine traditionelle, mit dem Rundfunkbetrieb groß gewordene Programmzeitschrift nennt sich, entgegen ihrer heutzutage redaktionell vertretenen Prioritäten, noch immer „HÖRZU“ – vielleicht weil „SCHAUZU“ recht eindeutig die Passivität der durchschnittlichen Rezeptionshaltung beim Fernsehen (SIEH-FERN) betonte, und „SIEHZU“ zu fatalistisch klänge? Eine andere nicht minder traditionelle Zeitschrift, bleibt ihrem Titel nach unverfänglicher, macht sich aber ebenso an der auditiven Wahrnehmung fest, indem sie auf den StundenGONG im Rundfunk anspielt.

Nähme man als „Leser“ der erstgenannten Zeitschrift die Aufforderung zum Zuhören auch beim Fernsehen ernst, dann käme man im Glückfalle des geeigneten Filmes zum Begriff des Hörfilms – nur einer von zahlreichen dramaturgischen Möglichkeit der auditiven Erzählung, bzw. eine Form der Radiokunst in der der Hörende sich das Gehörte selbst ausmalt, wovon Blinde Ihnen ein Lied singen könnten.

 

Zwei Thesen zu Beginn:

-Der Terminus Radiokunst, also die Idee einer originären Kunst für das Massenmedium, ist so alt wie der Beginn des regelmäßigen Sendebetriebes aus dem Berliner Voxhaus (1923), und er entwickelte sich parallel zu den funktionalen Bindungen des Radiobetriebes, die als Widmung im Sinne der Bildung, Unterhaltung oder Politik und Lenkung der Massen beschrieben werden kann.

-Bei der Entwicklung ästhetisierender Spielformen gerade im Radio war die dem Medium jeweilig zur Verfügung stehende Wiedergabe-, Speicher- und Bearbeitungstechnik von entscheidender Bedeutung. Frühe Collage-Experimente mit Filmtonspuren, Wachszylindern und Schellackplatten belegen das. Die in den 50er Jahren eingerichteten Experimental-Studios in Funkhäusern stehen für ein reges Interesse sowohl an musikalischen Entwürfen für den Rundfunk als auch an der Schaffung einer genuin radiophonen Kunst.

HÖRSPRACHE

 


Wo die Stülle is amm stüllztn

Fülld dr Mansch süch wull am wüüllsdn.

Ãœmmmarzu ond euburall

Dräunit onz das Drummulfall.

 


Matthias Koeppel aus „Starckdeutsch“, ein Literaturzitat

 

Der Begriff „Radiokunst“ suggeriert als Oberbegriff einen überschaubaren Gegenstand. Allerdings zerfällt er bei Annäherung in kaum mehr zu fassende Einzeldisziplinen wie das Hörspiel mit all seinen Spezifikationen aber auch die O-Ton-Collage und Geräuschsymphonie a là Gunold („Bellinzona“, 1924), das Schallspiel und Musikhörspiel, das Hörbild, auch der Literatur entspringende Formen wie die Lautpoesie oder poési sonore und nach dem zweiten Weltkrieg die elektro-akustischen Experimente und die daraus resultierende musique concrète und Soundscape Composition, das Neue Hörspiel und wiederum die Originalton- und Collagekonzepte, die Ars Acustica und im eingeschränkt auditiven Sinne auch die Medienkunst.
Beim Blick zurück auf den Start des Rundfunks im Jahr 1923 und die allgemeine Situation der Künste zu dieser Zeit scheint die Inbetriebnahme des neuen Massenmediums auf Künstlerseite als eine Art Projektionsraum aufgenommen worden zu sein, eine Art Spielfeld, das den unterschiedlichen Künsten endlich eine geeignete Umgebung für grenzüberschreitende Projekte und innovative Formen zu schaffen versprach. Dazu gehörten Ideen, die das neue Medium gleich ganz umwidmen wollten, wie dies der italienischen Futurismus andachte, indem er aus „el Radio“ „la Radia“ zu machen trachtete, um eine Ablösung der traditionellen Künste und ein neues Zeitalter der Musik zu begründen. Nach derartigen Vorstellungen hätte die Geburt der Radiokunst ein Denken in traditionellen Kunstgattungen abgelöst, hätte sie zu historischen Erscheinungen werden lassen. Was so ja nun nicht passierte. Dennoch erscheint die Idee einer originären Kunst im neuen Medium entscheidend für die gegenseitige Annäherung der Künste im 20. Jahrhundert, wobei den Genres der Radiokunst immer der Ruch des Grenzgängertums anhaftet.

HÖRMUSIK

 


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Ludwig van Beethoven aus der „5. Symphonie“, ein Musikzitat

 

Grenzfälle der Musik

In der Musik erhalten neue Formen der Sprachbehandlung neben oder zusammen mit Konzeptionen an akustischem Material Einzug in die kompositorische Praxis. Dabei wird der Text nicht mehr unter Gesichtspunkten seiner Sanglichkeit, Metrik oder musikalischen Verwertbarkeit ausgesucht und behandelt, sondern als Sprechwerk aufgefasst und in einer radikalen Weise des unmittelbaren Sprechaktes dem musikalischen Material zur Seite gestellt. Die so entstandene Komposition begreift Sprache aufgrund der ihr immanenten Ausdrucksgebärde. Musikalische wie sprachliche Gefüge entstehen hier nicht aufgrund einer Einbindung begrifflich fixierter Bedeutung unter primär musikalischen Gesichtspunkten, sondern in der Gleichsetzung von Musik und Sprache (oder besser musizieren und sprechen) unter der Prämisse ihrer Materialität. Momente des Musizierens (wie z.B. das Anblasgeräusch bei Blasinstrumenten oder das Atmen beim Singen) wie des Sprechens (auch hier atmen, aber ebenso nicht begriffliche Artikulationsweisen wie Stöhnen, Grunzen, Röcheln etc.), die vordem für die ästhetische Mitteilung nicht für wichtig erachtet wurden, werden hier zum Ausgangspunkt der Komposition. Komponiert wird der Akt des Sprechens, wobei das Gesprochene primär als phonetisches Material verwendet wird. Hier könnte eine ganze Reihe von Nennungen ansetzen, Kagels Anagrama (1957/58), Berios Visage (1961), Henzes Versuch über Schweine (1968) Schnebels Maulwerke und Atemzüge (1970/71) bis hin zu Sprach- und Lautbehandlung im New Jazz und den Stücken von Stimmartist(inn)en wie Shelly Hirsch, Anna Homler, David Moss u.v.a. Neben dieser Gewichtung des Sprechaktes in der musikalischen Konzeption erwecken außermusikalische Methoden, bzw. Materialien das Interesse einiger Komponisten. Das gilt einerseits für das Umfeld von Pierre Schaeffers musique concrète und Luc Ferraris Anekdotischer Musik, andererseits aber auch für das weite Feld der in den 50er Jahren einsetzenden elektroakustischen Experimente.

Die Rede ist von Formen der Neuen Musik, die – den Grenzbereich streng musikalischen Denkens aufsuchend – nicht mehr allein als Musik rezipiert werden müssen, sondern ebenso sehr als akustisches Konstrukt, Hörspiel, Literatur mit Musik oder Noise Musik verstanden werden können oder sogar wollen.

 

Literarische Grenzbereiche
Als dem musikalischen Ausdruck gegenüber stehende Kunstformen werden häufig die zuerst einmal von der schriftlich fixierbaren Sprache ausgehenden (Rand-)Bereiche der Literatur gewertet. Diese Einschätzung wird vollzogen, obschon hier auf „außerliterarische“ Methoden und Materialien des Tonsatzes oder der Akustik zurückgegriffen wird. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang vor allem die Entwürfe des russischen Futurismus, die Lautgedichte Kurt Schwitters und der Dadaisten und die Entwürfe der Lettristen, serielle Techniken in der Poetik aber auch das Arrangement größerer literarischer Gattungen nach musikalischen Formprinzipien, wie Thomas Manns „Dr. Faustus“ und Hans Henny Jahnns „Perudja“ oder „Fluß ohne Ufer“.

Auch diese literarischen Formen erfahren ihre Verbreitung und Besprechung in einem festen und ‚gesicherten‘ (weil historisch herangereiften) Umfeld. Einige Werke sind jedoch eher einem neuen Ausdruckszusammenhang zuzuordnen, der Musik und Sprache unter dem Gesichtpunkt ihrer Materialität vereinigt. Dies gipfelt zuweilen in der akustischen Organisation literarischen Materials.

 

Grenzland Schallspiel

Parallel zu den hier nur grob umrissenen „Erweiterungstendenzen“ in den Künsten des 20. Jahrhunderts kommt seit den 20er Jahren ein Drittes hinzu: das Hörspiel im hier allerweitesten Sinne des Begriffes. Im Hörspiel gibt es Weisen der Sprach- und Musikbehandlung, die sowohl nach musikalischen als auch nach literarischen oder poetischen Gesetzmäßigkeiten angeordnet sind. Sie sind gleichermaßen von Komponisten wie von Dichtern konzipiert. Als dem Hörspiel notwendiges Medium gilt aufgrund seiner technischen Mittel und Möglichkeiten zumindest für die Anfänge des Hörspiels bis in die 60er Jahre hinein der Rundfunk, so dass für die Diskussion um die Bedeutung und Auslegung des Begriffes Hörspiel dessen Charakterisierung als einer radiophonen Kunst bestimmend war. Diese Fixierung als Rundfunkgattung determinierte das Hörspiel in der Entwicklung seiner Gestalt, insofern Form und Inhalt immer auch vom Selbstverständnis des Rundfunks geprägt wurden. Eine ausgewiesene Instanz für das Hörspiel innerhalb des Rundfunks hat es – wie wir dies heute von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten her kennen – anfänglich nicht gegeben. Vielmehr arbeiteten sowohl Wort- als auch Musikredaktionen an der Entwicklung einer originären Radiokunst, was gerade in der Weimarer Republik zu einer Auffächerung des Bereiches in eher sprachorientierte Sendespiele oder literarische Handlungshörspiele einerseits und andererseits den Klang und die musikalische Gestalt gewichtende Schallspiele oder Musikhörspiele führte. In der literarischen Auslegung des Hörspielbegriffes erfuhr das Hörspiel einen überwiegend auf seine semantische Sinnfälligkeit ausgerichteten Aufbau. Die `musikalische Seite‘ bezog eine die Syntax der akustisch aufgefassten Elemente des Hörspiels betonende Position. Diese in der Wertung der vorhandenen Formen allzu oft als konträr ausgelegten Tendenzen ließen es (ganz allgemein) bereits als einen Grenzfall zwischen Musik und Sprache erscheinen, oder machten es zum Grenzland mit Affinität sowohl zur sprachlichen als auch zur musikalischen Organisation.

HÖRBILD

 


„R-R-R-R-Ring“

 


Roy Lichtenstein aus „R-R-R-R-Ring“, ein Bildzitat

 

Radio-Kunst braucht traditionell das spezifische Medium, sowohl als Auftraggeber, Initiator und Produzent, als auch als Distributor für alle seine Erscheinungsformen. Aufgrund der technischen Entwicklung in Produktion und Speicherung von Hörstücken hin zu einer sogenannten Demokratisierung der Produktions- wie auch der Distributionsmittel, ist eine Bindung der Radiokunst an „sein“ Medium tatsächlich nicht mehr zwingend: Ars Acustica, eine musique concrète und Audio Art existieren längst auch außerhalb des Radios, auf Festivals, in Lounges und installativen Environments, selbst auf dem Tonträgermarkt.
Der Rundfunk entfernt sich derzeit von „seiner“ Kunst, entwickelt sich zum Medium der durchformatierten Massen. Für eine Kunst in einem solchen Medium findet sich immer schwerer ein Ort, erst recht, wenn sie im Laufe ihrer Genese eine Qualität entwickelt, die sie den sogenannten „ernsten“ Künsten nahe stehen lässt und deshalb (aus Sicht des Marktes) unattraktive Minderheiten umtreibt. Also wird die Radiokunst als regulärer Programmpunkt in den öffentlich-rechtlichen Anstalten womöglich verschwinden, was aber nicht gleich das Ende der Gattung bedeutet, denn die Literatur existiert nicht allein im Buch oder die Symphonie nur im Konzertsaal. Tafelmusik tut’s auch ohne Tisch und an die Kirchenmusik glaubt man ebenso außerhalb der Gotteshäuser.

„???“! ! ! !

 


Die Lautpoesie ist eine schweißtreibende Angelegenheit

 


Jeremy Clarke, Valeri Scherstjanoi in „Parlament mit Maschinen“, Zitat aus einer Radiokunstperformance

 

Radiokunst ist eine akusmatische Kunst, eine Lautsprecherkunst, die in der Abwesenheit visueller Reize ihre eigentliche Qualität entfaltet. Diese Qualität bedeutet sehr viel mehr als den Umstand, dass man im Hören die Akteure, sofern da welche sind, nicht zu Gesicht bekommt – obschon auch das ein Charakteristikum jeglicher Lautsprecherkunst ist. Ob die Lautsprecher nun ihre Information (Impulse) über einen Funkempfänger erhalten, erscheint heute nebensächlich, da das Radiogerät nur eine von vielen Abspielmöglichkeiten gibt. Radiokunst erstand als originäre Kunstform – wie gezeigt – aus dem Wesen des Rundfunks und der Zeit die ihn hervorgebracht hat, und vielleicht ist es gerade die Radiokunst, die dem gegenwärtig sich selbst wegformatierenden Rundfunk als leidlicher Nebensache in einer nahen oder fernen Zukunft wieder den Weg zur eigentlichen Qualität des Mediums weist. Denn Radiokunst als Spiel mit der Hinwendung zum Hören ist der mannigfaltige Umgang mit dem Hören an-sich. Ein Medium, das sich heute wesentlich auf Information und Unterhaltung ausrichtet, hätte selbst darin alle Wege und Möglichkeiten offen, seine Gegenstände formal vielseitig zu gestalten. Dass Information mehr sein kann als nur die (übertrieben formuliert) vorgesagte Meinung, beweisen Spielformen wie Feature, Hörbild und Hörspiel. Warum auch diese Formen zunehmend in Budgetbedrängnis geraten, bleibt dem Verständnis des zum Nur-Hören Aufgelegten unbegreiflich und schadet dem Medium selbst nachhaltig, denn das Hörinteresse wird sich vom Radio insgesamt abwenden. Wer sich dagegen an den Rieselfunk gewöhnt, wird das aufmerksame Hören auf kurz oder lang verlernen.
Erfolgsstorys wie die des Hörbuchs, des Krimis und der „Hörspielkinos“ dokumentieren das wieder steigende Interesse der Hörerschaft an anspruchsvollen Höraufgaben. Und von dort aus ist es zur Radiokunst nur ein kleiner Extraschritt, der jedoch der ästhetischen Wahrnehmung und dem Medium selbst immer wieder neue, auch ungewohnte Räume zu eröffnen vermag.

Radio as Art? – Herz oder Galle?

 


Was ist Radio und wo spielt es sich ab?

Was meint senden und was… empfangen?

Was ist dazwischen? Der Raum? Der Äther!

 


Und was ist der Äther?

Raum und Ort der Wellen, Wellenluft, Luftreich.

Reich der Medien!

 


Die Transformation des Radios.

Was ist (uns) Radio?

Wer sendet? Und wer empfängt?

[aus Dr. Arno Amian: Paranormale Medientheorie – Bandrauschen, Kap. 5: Stimmen]


Radio 1.0: Blick vom Elfenbeinturm


Pièrre Schaeffer und Herbert Eimert, zwei elektro-akustische Feldforscher in Paris und Köln, arbeiteten im Radio, dachten dabei aber vor allem an Musik. Radio war ihnen angenehmer und nützlicher Begleitumstand.

Daphne Oram und Desmond Briscoe laborierten auch für das Radio, stellten ihre Dienste jedoch unter den Scheffel der künstlerischen Ambitionen des Apparates selbst und begründeten mit dem „Radiophonic Workshop“ der BBC Ende 1950er Jahre den Mythos des Radiolabors, das neue Wege des Sounddesigns, der Komposition und für das Radio selbst ebnete. Weitere Labore folgten weltweit. Das Medium wie auch die Kunst profitierten davon.

Radio erstrahlt im Lichte der Kunst, und wenn Radiokunst die Kunst aus dem Radio ist, muss das Radio ein Apparat der Kunst sein, ganz einfach.

 

Radio 2.0 – der Apparat: Rundgang im Schloss

Radio wird im 20. Jahrhundert zum Apparat im Auftrag eigenwillig definierter Kommunikation: ein Instrument, das sendete und… empfangen wurde. Es transformierte akustische Zeichen, Stimmen, Töne zu Informationspaketen und Diskursgegenständen oder Klanggebilden und setzte sie als Angebot im Äther aus. Im Vertrauen auf den Empfang – als massenhaft zugeschaltetes Hin-Hören – traute der Sender sich so manch Unerhörtes. Denn immer riefen Stimmen im Äther (oder darunter) auch nach der Radiobühne als dem neuen Ort der Kunst oder träumten von neuen Formen des (futuristischen) Musiktheaters (Radia), mittels der dem Radio zugeschriebenen Attribute von Schnelligkeit, Simultaneität und Ãœberwindung der Zeitaufteilung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft . Die Kunst des Radios übernahm die Lufthoheit im Reich der Künste und kannte erst mal keine Grenzen.

Radio war nie wie Telefon. Unter den Kommunizierenden war es dasjenige, das sprach. Funktionierte es, dann wollte niemand mehr reinreden, nur zuhören. Das waren noch Zeiten! Als der Apparat einfach nur den Äther (be)spielte und auf offene Ohren traf; Ohren, die sich simultan an andere Orte versetzen lassen, ungeahnten Klangkonstellationen begegnen oder dem zeitlichen Kontinuum temporär entkommen wollten und nebenher höchstens noch bügelten oder strickten; Empfangsohren halt, Zuschaltohren.

Radio ist das von der Leine gelassene Telefon: Medium der Kommunikation, das den Empfänger (Hörer) – trotz Brecht’scher Kritik – von seiner Sprechoption und den Klangimpuls von Entstehungsort und -zusammenhang befreite. Anders gesagt ist der radiophone Klang heimatlos und ertönt an jedem beliebig zugeschalteten Ort. Im erhörten Klang erst manifestiert sich der Apparat.

 

Luftschloss.
Der Ort des Radios ist der Äther, doch da ist es nun nicht mehr allein: Ãœber den smarten Zugang des Mobilfunks zum Internet – seinerseits längst Repräsentant aller relevanten Inhalte des gesellschaftlichen Diskurses – existiert neben dem Rundfunk eine Parallelplattform, die dem (Brecht’schen) Begriff der Kommunikation auf Anhieb verbundener ist als es der Rundfunkfunk je sein wollte . Der Unterschied besteht im Kommunikationsmodell, das beiden Systemen zugrunde liegt, wobei das ältere des Hörfunks zunehmend überholt wirkt. Weil weiterreichende und immer intensiver nachgefragte Kommunikationstechniken neben ihm stehen, funkt der Rundfunk nicht mehr rund.

Der Kunstapparat Rundfunk dagegen ist eigentlich stabil, denn die Idee der Radiokunst als einer auf den Mitteln und Möglichkeiten des Mediums aufbauenden Kunst, führte im Konzert mit den etablierten Künsten im 20. Jahrhundert zu eben jener spezifischen Hör- und Sendekunst, der der Äther ein magischer Erscheinungsort ist. Der „Radio-Äther“ ist eigenwillige Interpretation der Luft, ja selbst eine Luftnummer, ein Spielplatz neuer Formen sowie einer Materialästhetik, die – wir sagten es schon – der Kunst insgesamt gut taten. „Großes Kino“ im Himmel.

Einer solchen Kunst stehen auch oder gerade mit den neuen Medien alle Tore offen, ist doch der Äther allein vielschichtiger oder tiefer (?) geraten – nicht enger oder ausschließlicher.

Als Kulturraum, den das Radio uns baute, existiert mit dem Äther ein Ort neben, über oder sogar im Konzertsaal – desgleichen in Theater und Museum – ein Ort, der uns überall sein kann, der uns umfängt. Dennoch erscheint der „Radio-Äther“ heute wie ein (zunehmend historischer) Ort neben anderen Kulturorten, gespeist von einem Apparat, der „seinem“ Wirkungsraum nicht mehr traut – vielleicht weil er ihn in seiner neuen Gestalt (noch) gar nicht kennt? So steht das Radio neben gesellschaftlich getragenen Institutionen wie dem Theater, dem Konzertsaal und dem Museum. Alle sind sie als Orte des Diskurses, der Bewahrung und Präsentation, und alle stehen zunehmend unter Rechtfertigungsdruck. Alle müssen gewollt werden, um da zu sein.
Warum aus der Not nicht eine (öffentlich-rechtliche) Tugend wird, der Verlust des Status als Massenmedium also nicht als Chance genutzt wird, den Äther konsequent wieder jenseits aller Berieselungsphantasien zu gestalten, bleibt das Geheimnis der sich in ökonomischer Rationalität versuchenden „Apparatchiks“ . Oder liegt es schlicht an der Größe? Neues aus der Anstalt?

 

Radio 3.0 – draußen vor der Tür: smart radio

Was meint senden? Und wer empfängt?

Die einst besendeten Massen zerfielen in allein um sich selbst drehende Subjekte, im Idealfall Verbraucher und Konsumenten, die ihre Zuwendung oder Empfangsbereitschaft im Kosten-Nutzen-Modell ermitteln. Wird also für den Einzelfall gesendet oder zweckmäßig?
Wie tickt der Einzelfall und welchen Zweck erfüllt das Radio?

Sein Empfänger – ökonomisch Massenphänomen, medial Individuum – ist nicht mehr bloß Empfänger, wenn er und sie als medientrainierte Individuen auf „Teilnahme“ statt passiven Empfang setzen. Als Prosumer sind sie längst Teil des Mediensystems, finden den Nur-Sender uninteressant oder fühlen sich bevormundet. Ihr „Nimm teil und mach mit“ akzeptiert das „Ruhe bitte“ des Apparates nicht länger, das als zugeschaltete Hörbereitschaft einst – neben der technischen Befähigung – als Bedingung der Möglichkeit des Radio-Empfangs angenommen werden konnte.

Was nun also unternehmen die Anstalten im Gegenwind der neuen Zeit? Viele ducken sich, beten Tapeten an und rufen das Ideal der Tagesbegleitung aus. Umstrukturierte Programme verweisen den anspruchsvollen Zuhörer noch tiefer in die Nacht hinein, trösten ihn mit der im Netz für ganze 7 Tage hinterlegten mp3-Fassung und mutieren im Kerngeschäft zum institutionalisierten Medienrauschen. Die Bereitschaft zuzuhören wird sich durch den Verlust der Befähigung dazu abgeschafft haben. Infolge dessen lebt auch das öffentlich-rechtliche Hörspiel wieder hinter dem Vorhang, ist zurück beim Ideal des Radio-Dramas mit narrativem Korsett unter dem Primat der Erzählung. All die anderen künstlerischen Gattungen des Sendebetriebes erfahren einen massiven Imageverlust im Apparat selbst und werden im Zweifelsfalle abgeschafft oder zurückgeführt auf die Abteilungen, von denen sie sich ehemals losgestrampelt hatten. Unter Aufsicht des Zweifels experimentiert es sich aber schlecht.

Der neuen Zeit wird bisweilen durch die Aussendung temporärer Spähtrupps in die unbekannte „Sendelandschaft“ begegnet. So erforschte Deutschlandradio bspw. von Herbst 2010 bis Herbst 2011 mit seinem temporären Labor „Radioortung“ ganz konkrete Momente in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausgewählter Orte . Ein noch radiophon geerdeter Vorstoß, der dank Smart-Technologie und GPS eine erstaunliche Kehrtwende in der Geschichte des aufgezeichneten akustischen Impulses darstellt. Der Rezipient will Authentizität, die sich nun neben dem O-Ton auch wieder am Originalschauplatz findet. Der O-Ort ist dem Radio ein konkret ausgewählter Ort im Äther, der beliebig zugeschaltet werden kann. Die am konkreten Ort vorgehaltenen Inhalte machen an ihm selbst und/oder dem Besucher vor Ort fest, greifen dabei auf etablierte Gestaltungs-Parameter der Radiokunst zurück, sprechen den Rezipienten darüber hinaus aber ebenso visuell und haptisch an. In diesem Spielraum bekommt das Radio eine multisensorielle Perspektive, die sowohl künstlerisch (Hörspiel, Feature) als auch journalistisch (Reportage und Dokumentation) interpretierbar ist, die sich aber ebenso rein klanglich ausgestalten lässt. Auch neuere Versuche, z. B. der hörspielerischen Adaption dynamischer On-Site-Spiele als bewegungsdramaturgisch gesteuerter „Handy-Games“ vor Ort docken an diesem Prinzip an.

Obwohl das Radio damit seinen Sendebetrieb, bzw. Herrschaftsraum auf das konkret im Raum bei freier Zeiteinteilung vorgehaltene Archiv reduziert, löst es gleich zwei durch das Internet entstandene Konkurrenz-Probleme auf: Es schafft endlich eine intelligente Lesart des Begriffes „Radio on Demand“, und es rückt unter Beibehaltung der Parameter radiokünstlerischer Arbeit den Sendebegriff in ein neues Licht. Obschon das Neuland bereits am Horizont flimmert, wird der Spähtrupp aber heim geholt. Es bleibt bei einem Wimpelchen irgendwo auf freiem Feld: „I was here!“.

Radio as Art? Ja, denn die Geschichte der Kunst des Mediums zeigte dem Apparat bislang immer einen Ausweg aus selbst- oder fremdverschuldeten Krisen. Es hälfe, der Apparat begriffe sich selbst als Kunstapparat und leitete den sicherlich schmerzlichen aber notwendigen Neustart ein.